Cristina Zilioli

Cristina Zilioli wurde in Herrliberg bei Zürich geboren. Nach einer Lehre als Fotolaborantin arbeitet sie selbständig als Fotografin. Seit 1986 publiziert sie Fotoreportagen für Zeitschriften und in Büchern. Für ihre Arbeit erhielt sie mehrere Auszeichnungen und Projektbeiträge, u.a. 1994 den Eidgenössischer Preis für Gestaltung. Sie zeigt ihre Werke in Ausstellungen im In- und Ausland. 

Aufenthalt

04.01. - 31.03.2016

Cristina Zilioli, Bedigliora, 25.01.2016
La mattina dopo la luna piena © 2016 Pro Litteris, Zürich

Cristina Zilioli, «vista» und Familienfotografien                 

Cristina Zilioli ist in Herrliberg geboren und oberhalb davon in Rütibühl aufgewachsen. Nach einer Lehre als Fotolaborantin arbeitete sie als Fotografin am Zürcher Theater Neumarkt und freischaffend. In Aufträgen für Zeitungen und Zeitschriften porträtiert sie Bosnierinnen, welche die Kriegsgräuel überlebt haben, magersüchtige Frauen in einem Therapiezentrum und „Hautansichten“. Andere Arbeiten zeigen das Hotel Bellevue in Bern von der Lingerie bis zu den noblen Etagen, oder religiöse Szenen mit Holzskulpturen und Malereien auf dem Sacro Monte di Varallo im Piemont. Die Fotografin arbeitet mit verschiedenen Objektiven, die sich analog und digital einsetzen lassen. Sie vergrössert Schwarz-Weiss-Fotografien von Hand im Labor auf Barytpapier.

Der italienische Charakter von Bedigliora schlug die Künstlerin gleich in seinen Bann. Sie war beeindruckt von der Grandezza und ruhigen Schönheit der Häuser, dem sorgfältigen Umgang mit dem Stein, den minimen Eingriffen mit grösster Wirkung, wie den Holzbalken über den Fenstern und den Trompe-l’œil-Malereien auf den Fassaden. Die Lage des Dorfes zwischen Bergen und Hügeln begeisterte sie, am Anfang rannte sie von einem Fenster zum andern und konnte sich nicht sattsehen. Eines Januarmorgens entstand das Bild des untergehenden Mondes, in dessen feinem Licht der Monte Rosa sich vor dem zwischen Nacht und Tag schwebenden Himmel abzeichnet. Die Strukturen der Schwarz-, Grau- und Weisstöne, die körnigen Flächen des Analogbildes halten den fragilen, vergänglichen Moment mit Ruhe und Eleganz fest.

Cristina Zilioli hatte spezielle Gründe, sich für Bedigliora zu interessieren, stammte doch ihre Familie väterlicherseits aus Brezzo di Bedero, unweit des Malcantone auf der italienischen Seite des Lago Maggiore gelegen. Allerdings war schon ihr Urgrossvater im 19. Jahrhundert in die Schweiz eingewandert. Seit mehreren Jahren beschäftigt sich die Fotografin mit Projekten, die mit ihrer Familiengeschichte zusammenhängen, und die sie hier teilweise zeigt und zusammenführt. Da sind einerseits die Bilder vom Anwesen ihres Grossonkels, der in Rütibühl ein Grundstück kaufen konnte, auf dem er ein Haus baute. 94jährig starb er bei der Arbeit im Garten. Sein Bruder und dessen Sohn hatten ihm einige Quadratmeter abgekauft und ihrerseits je ein Haus gebaut. Cristina Zilioli ist also mit ihren Eltern und zwei Schwestern auf dem Land aufgewachsen. Alle waren Italiener, obwohl sie nicht italienisch sprachen, die Einbürgerung erfolgte erst 1963. Die Mutter war ebenfalls Ausländerin, allerdings in der ersten Generation. Sie stammte aus Österreich und kam als junge Frau in die Schweiz. Auch sie behielt von ihrem Heimatland weder die Sprache noch die Kultur, sondern integrierte sich sofort und radikal. Mit ihren Töchtern besuchte sie die Verwandten in Österreich aber regelmässig. Die Frage nach dem Fremdsein und nach Heimat und Verwurzelung hat Cristina Zilioli seit ihrer Kindheit beschäftigt. Sie erlebte die Ablehnung der Italiener in der Schweiz zur Zeit der Schwarzenbach-Initiative, in der sie selbst noch als „Tschingg“ beschimpft wurde. Schon in frühen Arbeiten porträtierte sie italienische Gastarbeiter auf Baustellen. Die Vitalität dieser Männer, die geschickten, kräftigen Hände und der Lebensmut fallen sofort auf.

Diese Eigenschaften charakterisieren auch die Personen auf den Familienbildern. Die Männer der Familie Zilioli waren alle im Baugewerbe tätig, der Vater wurde Ingenieur. Ihre Häuser zeichneten und bauten sie selbst.

Der Grossonkel Ernst begann neben seiner Arbeit als Maurer eine Bienenzucht. Er beschaffte sich dazu ein Buch, das genau beschrieb, wie er vorgehen musste. Seine Bienenvölker vermehrten sich schnell, und bald war er einer der angesehensten Imker des Kantons und produzierte jährlich mehrere Tonnen Honig. Seine Zuchtköniginnen waren gefragt bis nach Amerika. Er lebte ohne Familie, nur mit der älteren Schwester, hatte aber eine intensive Beziehung zu den Tieren und zur Natur.

Cristina Zilioli kombiniert in ihrer Auslegeordnung Fotos aus dem Familienarchiv, die sie vergrössert, mit eigenen Fotoserien. Stolz posieren die Personen vor ihrem Haus. Auch Innenräume sind manchmal zu sehen, dabei ist frappierend, wie kärglich der Grossonkel hauste. Zimmer und Küche sind nur provisorisch eingerichtet, vernachlässigt und einfach – diese Leute, die ihr ganzes Leben in der Schweiz verbrachten, scheinen in Italien zu leben. Es ist, wie wenn ihre Herkunft sie dennoch bestimmt und geformt hätte. Welche Brüche entstehen in unseren Biografien, was setzen wir wissentlich oder unwissentlich fort, was geben wir weiter, ob wir es wollen oder nicht? Wie bewahrt sich das Gedächtnis einer Familie, einer Gruppe?

Obwohl sie intime Bilder und persönliche Aufnahmen enthält, ist die Ausstellung kein Familienalbum. Spezielle Momente des Familienarchivs wie Konfirmation oder Hochzeit kontrastieren mit Aufnahmen aus dem Alltag oder Passbildern. Eindrücklich sind die Selbstporträts der Fotografin mit ihrem Sohn, die auf einem Bild mit dem gleichen eigenständig-ernsten Blick nebeneinander stehen. Bilder aus Kindheit, Adoleszenz, Erwachsenleben und Alter machen von den Grosseltern zum Enkel das Vergehen der Zeit sichtbar und halten es nüchtern und melancholisch fest. 

Wer ein Haus baut, schafft etwas Bleibendes, das ihn oder sie überdauert. Das Haus bewahrt Erinnerung in seinen Mauern, die über Generationen weitergegeben werden. Cristina Ziliolis Familie lebt nicht mehr in den Häusern, die von der Grossvatergeneration erbaut wurden. Sie wurden alle verkauft, zum grossen Bedauern der Fotografin. Ein Haus ist gelebtes Familiengedächtnis, es prägt, wer in ihm aufwächst, und es wird von seinen Bewohnern verändert und geprägt. Mit ihren Arbeiten schafft Cristina Zilioli einen anderen Raum der Erinnerung, nicht auf Steinmauern sondern auf Papier: ein visuelles Gefüge, das Zeugnis ablegt, weitergibt, aber auch Brüche aufzeigt, in den Dialog mit Betrachterinnen und Betrachtern tritt und so neue Innenräume und Ausblicke eröffnet.

Bedigliora 2. 4. 2016, Ruth Gantert