Louise Gnädinger (1932-2023)
Louise Gnädinger besuchte das Lehrerseminar und studierte dann fünf Semester Romanistik und Philosophie an der Universität Zürich. Dann unterbrach sie das Studium und absolvierte eine abgekürzte Schneiderinnenlehre, als Voraussetzung für den Besuch der Modeklasse der Kunstgewebeschule Zürich. Nach dem Diplom als Modellistin und Modezeichnerin eröffnete sie ihr eigenes Atelier in Zürich. Dann kehrte sie an die Universität zurück und schloss ihr Studium der Romanistik, Germanistik und Musikwissenschaft mit einer Dissertation ab. Sie arbeitete in der Zeitschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich. Ihre Forschungsgebiete waren die Mediävistik und die Literatur des Barockzeitalters. Sie veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Werke und Übersetzungen, u.a. zu Caterina von Siena, Angelus Silesius, Johannes Tauler und Paracelsus. Ihre jüngste Publikation war der Mystikerin Angela von Foligno gewidmet. Louise Gnädinger lebte in Dägetschwil (Ostschweiz) und im Malcantone.
Fotos der Ausstellung (© Bruno & Eric Bührer)
Aufenthalt
01.10. - 31.12.2013
Tag der offenen Tür
Einführung zum Tag der offenen Tür
Was an Louise Gnädingers Biographie sogleich fasziniert, ist das Zusammenkommen von Handwerk, Kunst und Wissenschaft in einer Person – in unserer Zeit eine absolute Seltenheit.
Seit vielen Jahren hat Louise Gnädinger ein kleines Haus im Wald unterhalb von Bedigliora, wo sie ohne jeden Komfort lebt, liest, schreibt, malt und den Garten pflegt. Unweit von diesem Ort arbeitete sie in der Casa Atelier an ihrem Thema «bildliche reminiszenzen – anklänge – nachklänge – abfälle – wieder : holungen», wie es auf der Einladungskarte in der schönen Olivetti valentine-Schrift heisst. Reminiszenzen sind dabei gar nicht im Sinn einer nostalgischen Erinnerung an etwas Verlorenes zu verstehen, sondern eher im Sinn der Arbeit mit Material, das seine Geschichte hat. Dieses Material stellt die Künstlerin in einen anderen Zusammenhang und verleiht ihm so eine neue Existenz. Sie hat für ihre Arbeit im Atelier nichts gekauft, sondern Dinge mitgenommen, die bei ihr lagerten, die ihr andere übergaben, oder die sie irgendwo fand. Karton, Papier und Farben hatte sie selbst noch oder überliessen ihr andere Künstlerinnen nach der Arbeit, Bierdeckel behielt sie auf oder fand sie schon ganz zertreten am Boden. Fäden, Knoten, Zettelreste sammelte die Weberin Gudrun Morandi im Fensterrahmen der Weberei extra für sie zur Weiterverwendung. So schafft sie arte povera – Louise Gnädinger lacht: «arte poverissima».
Dabei ist es gar nicht nötig zu wissen, wie die Bilder und Collagen entstanden und wo die Motive herkommen – sie wirken unmittelbar in Form und Farbe, in der Stofflichkeit und im Dialog mit der neuen Umgebung. Ein Beispiel: Die Zackenlinie, die sich auf der Einladungskarte findet, und die einige der Kartons abschliesst, kommt von der Zackenschere, die der Grossvater und der Vater von Louise Gnädinger zum Schneiden gewisser Stoffe brauchten, damit sie nicht ausfransten. Das Zackenmotiv findet sich aber auch in anderer Art wieder, auf den eigenartig schwarz-gelben Bildern. Diesmal ist es eine Reminiszenz an «Zacki», den Feuersalamander, den Louise über zehn Jahre lang im Garten besuchte und den sie an der speziellen Zeichnung erkannte. In der künstlerischen Arbeit verwandelt sich die Reminiszenz, sie verlässt den figürlichen Ursprung, der in der Farbgebung noch aufscheint und wird zu etwas Neuem.
Das erste Bild, das bei der Ankunft entstand, ist in Primärfarben auf Indienpapier mit Rhombenstruktur gemalt: rot, blau und gelb. Das Blau leuchtet richtig neben dem Gelb, der rote Strich gibt einen Rahmen. Diesem lebensbejahenden Werk folgte später eine Serie, die dem Tod gewidmet ist, mit dunkeln Materialien wie Russ, Asche und Holzkohle.
Neben der Zackenform fällt das Motiv der Falten auf, eine Thema, mit dem sich Louise Gnädinger auch in ihren Kleiderkreationen befasste: Über den gewellte Karton ziehen sich Fäden, und geschwungene Leimspuren fixieren kleinere Kartonstücke auf dem Hintergrund. Starkfarbige Flächenkombinationen lassen an Wellblech denken, wie es in Armensiedlungen verwendet wird.
Solche «Anklänge» und «Nachklänge», Bezüge und Verbindungen entstehen direkt bei der Arbeit und beim Betrachten – es sind jedoch nie vorangehende Konzepte. Louise Gnädinger denkt viel nach, zum Beispiel auf ihren häufigen Zugfahrten zwischen Dägetschwil und Bedigliora, doch sie beginnt erst zu arbeiten, wenn sie nicht mehr denkt: Das Werk entwickelt sich aus dem Format, dem Material, der Farbe. Ein zweites wichtiges Prinzip ist die Transparenz. In ihrer Arbeitsweise bleibt der Entstehungsvorgang erkennbar. Der Faden, mit dem sie nähte, lässt sie an der Seite hängen, oder sie flicht mehrere verwendete Goldfäden zu Zöpfen. Die Leimspuren versteckt sie nicht, im Gegenteil, sie werden Teil des Bildes. Genauigkeit und Liebe zum Detail charakterisieren Louise Gnädingers Arbeit, doch sie verwechselt dies nie mit Perfektionismus und Sturheit. Sie schafft es, achtsam zu sein aber nicht kleinlich, sorgfältig aber nicht verbissen, erfinderisch aber nicht abgehoben – eine produktive Haltung in Handwerk, Wissenschaft und Kunst.
Ruth Gantert