Christine Götti

Christine Götti ist in Baar bei Zug aufgewachsen. Nach einer ersten Ausbildung an der Mode- und Textilfachschule in Zürich arbeitete sie als Modezeichnerin, Designerin und Einkäuferin in verschiedenen Textilfirmen. Eine zweite Ausbildung folgte an der Schule für Gestaltung in Basel: Sie besuchte den Vorkurs und die Grafikfachklasse. Seither arbeitet sie als Grafikerin und als Malerin in ihrem Atelier im Elsass und in Therwil bei Basel. Ihre Werke sind in Einzel- und Kollektivausstellungen zu sehen (u.a. Galleria De’ Marchi in Bologna, Kunst an der Muba in Basel, RegioArt in Lörrach, GaleriaZero Berlin).

Fotos der Ausstellung (© Bruno & Eric Bührer)

Aufenthalt

01.09. - 31.10.2015

Christine Götti war bereits von April bis Juni 2013 in der Casa Atelier. Ihre Ausstellung hiess: «Fuori della finestra».

Christine Götti, Bedigliora 2013

Einführung zur Ausstellung

Wie in ganz Europa stürzt der Frühling und Frühsommer in Bedigliora von einem Wetterextrem ins Nächste: Auf eine lange Regenperiode folgen plötzlich hochsommerliche Hitzetage. Als Christine Götti Anfang April im Atelier ankommt, fallen ihr gleich die Glyzinien auf dem Balkon auf. Sie beschliesst, sich mit den Pflanzen zu beschäftigen und herauszufinden, wie sie sich entwickeln. In der ersten Woche geschieht nichts, also fotografiert sie die Knospen, liest und hört dem Regen zu. In der zweiten Woche aber beginnen die Knospen zu wachsen, und ihre Farbe wechselt in ein helleres Rot. Sie schwellen dick an und die ersten öffnen sich. Die Neugier der Künstlerin steigert sich von Tag zu Tag. Sie beobachtet, wie sich weisse Blüten entfalten, wie sich die Knospen, Blätter und Blüten bei Regen, Nebel und (seltenem) Sonnenschein verändern. Sie erfasst die Formen und Farben in Zeichnungen und Acrylskizzen.

In einem weiteren Schritt entfernt sie sich vom Figürlichen, die Bilder werden abstrakter, die Malerin arbeitet mit Farbnuancen. Inzwischen kennt sie viele Erscheinungsformen und Stadien der Pflanze: Knospe, Blüte, Blatt und wachsender Samen vervielfachen die Umsetzungsmöglichkeiten. Christine Götti hat kleinformatige Papiere und Leinwände mitgebracht – sie hat ein kleines Auto. So kommt sie darauf, zwei oder sogar drei ihrer Bilder zu kombinieren. Sie merkt, dass sich die Bilder gegenseitig mehr Gewicht geben. Bei der Zusammenstellung entstehen spannende Farbverbindungen. Die Zweier- oder sogar Dreiergestalt formt sie im Nachhinein, oder sie plant die Kombination von Anfang an. Farben und Formen antworten einander über die Bildgrenze hinaus, bilden eine neue Einheit.

Christine Götti trägt die Farbe mit dem Spachtel auf und benutzt dann einen Karton, zum Beispiel das Innere einer WC-Rolle, um die Farbe zu verteilen oder zu entfernen. Die farbigen Varianten der Kartonrollen, die hier in der Nische aufgereiht sind, entstehen bei der Arbeit. Man könnte eventuell herausfinden, welche Rolle zu welchem Bild gehört, doch über die Leinwand legen sich mehrere Farbschichten, die am Schluss nicht mehr alle sichtbar sind.

Die Bilder lassen Raum für verschiedene Assoziationen: Wer erkennt in den schwungvollen Kurven und den leuchtenden Blautönen zwei ineinander verschlungene Stämme der Glyzinie? Ist es nicht eher eine Frauengestalt, oder vielleicht ein Ausschnitt aus einem Kirchenfenster?

Der neue Massstab trägt zum Verfremdungseffekt bei: In Wirklichkeit war die Knospe, die hier in vielfacher Form erscheint, so klein wie die Kuppe des kleinen Fingers – in der Vergrösserung und der künstlerischen Umsetzung zeigt sich ihre geballte Kraft. Die Knospe platzt auf und gibt ihr Inneres preis. Stärke und Fragilität charakterisieren auch die Malerei. Jedes Bild ist eine Momentaufnahme, und doch zeugt es von einem Prozess, der nicht verborgen oder geglättet wird.

Christine Götti beobachtet genau, nimmt sich aber immer die Distanz und die Freiheit, die es ihr erlaubt, das Gesehene umzuwandeln. Zuweilen finden Fragmente des Alltags Eingang in die Bilder: Ein Stück der Palette, eine Weinetikette, oder ein Stofffetzen, ein Zeitungsausschnitt aus dem vergangenen Jahrhundert, die aus der Handweberei stammen: sie bildeten den innersten Kern eines Garnknäuels. Themen der Knospe wie „Innen und Aussen“, „Werden und Vergehen“ erscheinen so wieder auf andere Art. Die Glyzinie auf dem Balkon („fuori della finestra“) gehört zum Haus und doch auch zum Garten – in Zwischen- und Grenzzonen bewegt sich auch die Künstlerin: zwischen konkret und abstrakt, zwischen Beobachtung und Erfindung, zwischen äusserer Realität und Innenwelt.

Ruth Gantert