Annette Hurst

Annette Hurst wurde 1962 in Stuttgart geboren. Sie bildete sich an der Kunstakademie Münster aus, wo sie 1988 Meisterschülerin war. 1997 verbrachte sie einen Studienaufenthalt in New York, 2000/2001 erhielt sie ein Arbeitsstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., 2006 war sie in der Art Colony Galichnik in Mazedonien, 2008 war sie Artist-in-Residence in Reykjavik, Island, 2010  in  der Fundaziun NAIRS in Scuol, 2016 in Kunstnarhuset Messen, Ålvik, Norwegen (Förderung durch 'Die Norwegisch-Deutsche Willy-Brandt-Stiftung'), 2019 im Atelier Salzamt, Linz (Stipendium des Landes Oberösterreich) und im Werkraum Warteck pp (Basel).

Ausstellung von Annette Hurst

Aufenthalt

05.10. - 14.11.2021

Wörter und Raum

Die Künstlerin Annette Hurst arbeitete vom 26.07.2020 bis am 30.09.2020 in der Casa Atelier. Sie zeigte ihre Arbeiten am 26.09.2020 unter dem Titel «Wörter und Raum».

Annette Hurst / mit den Wörtern gehen / Büttenpapier, Aquarell / 78 x 107 cm

 

Annette Hurst, Wörter und Raum 

Annette Hurst wurde in Stuttgart geboren. Sie studierte Bildende Kunst an der Kunstakademie Münster, wo sie Meisterschülerin war. Studienaufenthalte führten sie nach New York, Makedonien, Island, Norwegen, Österreich und mehrfach schon in die Schweiz. Sie war in der Fundaziun Nairs in Scuol und im Werkraum Warteck in Basel. Ihre Arbeit wurde von der Norwegisch-Deutschen Willy-Brandt-Stiftung und von der Konrad-Adenauer-Stiftung gefördert und ist in Gruppen- und Einzelausstellungen zu sehen.

Die vielgereiste Künstlerin hat sich in Bedigliora schnell eingelebt und wohlgefühlt. Der schwungvolle rote Schriftzug mit dem optimistisch aufstrebenden „meraviglioso“ (in der Küche) zeugt von ihrer Begeisterung und Offenheit für Neues. Meraviglioso – fünf Silben mit ihrer Klangfarbe, dem Rhythmus, einer Bedeutung, die das Wunder und den Reichtum verbindet: wundervoll. Annette Hurst hat in Bedigliora auch Italienisch gelernt, und so kamen bald andere Wörter dazu: „soggiorno“ und „spazio“ gesellen sich auf dem Bild, das auch auf der Einladungskarte zu sehen ist, zu „meraviglioso“: drei Wörter über- und ineinander, kurz, mittel, lang; Aquarellfarbe, mit Schwamm und Pinsel aufgetragen, graublau, rot und schwarz.

„Wörter und Raum“ heisst die Ausstellung. Raum, sei er nun zwei- oder dreidimensional, war schon immer ein zentraler Begriff für Annette Hursts Arbeit. Ihre Bilder atmen, verhalten sich zum Raum, stellen ihn her. Dazu kommt nun die starke Präsenz der Wörter, und wie man sieht, liegt viel in dem verbindenden „und“ des Titels „Wörter und Raum“: Hier bekommt das Wort Raum auf dem Papier, es schafft Räume, es wird Raum. „spazio“ heisst Raum und verkörpert sich im Raum. „Mit den Wörtern gehen“ nennt die Künstlerin dieses Bild. Dabei entstehen ganz neue Gänge, oder Räume: Anstatt die Wörter wie üblich von links nach rechts zu lesen, bringt die Anordnung unsere Augen auf ungewohnte Wege: das letzte grosse o von „spazio“ umfasst ein s und die zwei kleineren o, in der Mitte bildet das runde a, oder das „ogg“ von „soggiorno“ mit dem i von „meraviglioso“ ein „oggi“ – heute.

„Oggi“ und „adesso“ oder „heute“ bzw. „hier und jetzt“ sind ebenfalls wichtige Kategorien für Annette Hurst: ihre Bilder entstehen aus der Dichte des Augenblicks. Dabei ist sie hochkonzentriert und entwickelt das Bild aus der Dynamik des Geschehens. Sie plant es nicht und sieht es nicht voraus. So kommt es vor, dass sie ein Papier minderer Qualität nimmt, um etwas auszuprobieren – und gerade darauf entsteht plötzlich das Bild, das in seiner Kraft und in seinem Rhythmus überzeugt, was sich natürlich nicht wiederholen lässt. Der Zufall spielt dabei eine Rolle: Farbe kleckst oder fliesst hinunter, wird wolkig im feuchten Papier oder hebt sich klar von der Umgebung ab. Formen bilden sich im Rhythmus der Körperbewegung.

Besonders eindrücklich ist der schwarze Wirbel aus reiner Tusche im zweiten Stock. Erst als sie ihn gemalt hatte, mischte die Künstlerin aus einem Impuls heraus Tusche mit schon angerührten Farben und wischte mit dem Schwamm in horizontalen, grossen Bewegungen darüber. Trotzdem wirkt die Spirale, als sei sie auf den Hintergrund gemalt worden. Und man reisst die Augen auf angesichts solcher Lebendigkeit – und staunt, wie viel Farbe im vermeintlichen Grau und Schwarz steckt.

In Nairs im Engadin hat sich Annette Hurst viel mit dem Fluss Inn und seinen Wasserstrudeln befasst. Hier in Bedigliora sind es die Berge und die Hügel, die sie faszinieren. Sei es, dass der Monte Rosa sich als Schriftzug über einer Farbfläche – vielleicht über dem Lago Maggiore? – erhebt, seien es die sich übereinander lagernden Umrisse der Hügel, die in ihrer fliessenden Beweglichkeit auch wieder an Wasser erinnern.  „Flusso” (der Fluss) ist ein anderes Schlüsselwort für das Werk der Künstlerin. Angetan hat es ihr auch das leicht hingeworfene „ci vediamo“, das sich auf einigen Bildern findet. Wir sehen uns, man sieht sich – ein banales Abschiedswort oder ein tiefgehendes Versprechen, eine Erfahrung, eine Hoffnung? Ci vediamo – qui, adesso – oder vielleicht in einer anderen Dimension?

Annette Hurst bringt Bewegung in verkrustete Hierarchien, Kontrastpaare kommen ins Wanken: schwarzweiss und farbig, vorne und hinten, klein und gross, gerade und krumm, in sich ruhend und expansiv, massig und luftig. Ihre tänzerische Leichtigkeit findet sich in zwei Versen des von der Künstlerin geschätzten Schweizer Dichters, Malers und Grafikers Werner Lutz: „Immer wieder eine Linie ziehen / um darauf zu tanzen“ – meraviglioso!

 

Ruth Gantert, Bedigliora, 26.09.2020