Karin Isler
Karin Isler besuchte von 1983 bis 1987 die Schule für Gestaltung Basel und absolvierte die Grafikfachklasse. Von 1990 bis 1991 verbrachte sie einen Studienaufenthalt in New York. Für das Jahr 2000 wurde ihr ein Stipendienaufenthalt im Kulturzentrum Nairs, Scuol (GR) zugesprochen und 2002 erhielt sie den Stipendienaufenthalt der Stadt Basel in Paris (Cité internationale des Arts). 2020 verbrachte sie einen Stipendienaufenthalt in der Fondazione Sciaredo in Barbengo (TI). Die Künstlerin arbeitet in Basel.
L'Alba
Aufenthalt
01.01. - 27.03.2022
Kontakt
L'Alba
Karin Isler, L’Alba
Karin Isler ist in Basel aufgewachsen, wo sie die Schule für Gestaltung besuchte und die Grafikfachklasse abschloss. Studienaufenthalte führten sie nach New York, nach Nairs im Engadin, nach Paris und auch ins Tessin, in die Casa Sciaredo in Barbengo. Die Künstlerin lebt in Basel, ihr Atelier liegt im französischen Hégenheim.
Seit langem arbeitet sie mit der Lochkamera, die sie zuerst selbst baute, unterdessen auch kauft. Zwei Lochkameras nimmt sie nach Bedigliora mit und bringt sie sofort zum Einsatz. In Dezembernächten stellt sie die Kamera im unteren oder oberen Stock auf den Balkon. Am frühen Morgen nimmt sie den Film heraus. So entstehen Nachtbilder, auf denen Lichtquellen zu erkennen sind: Sternbilder, der Mond oder die Dämmerung vor dem Sonnenaufgang.
Solidarisch stehen zwei Tannen vor dem Haus nebeneinander, ihre Silhouetten heben sich vom Himmel ab, tröstlich in ihrer Zweisamkeit wie Philemon und Baucis, die beiden Liebenden aus der Antike, die nach einem langen gemeinsamen Leben in Bäume verwandelt wurden. Drei Fotos lässt die Künstlerin vergrössern. Auf dem mittleren der Serie geht die Sonne hinter dem Mondini auf. Karin Isler pflückt genau den Augenblick, in dem der Lichtball hinter der Bergkuppe explodiert. Daneben steht eine einzelne Tanne wie ein Dirigent, der die Energie freisetzt und kanalisiert. Das Licht fächert sich in Prismen auf, ergiesst sich in Lavaströmen und bildet eine wirbelnde Spirale.
L’Alba, die Morgenröte, verbindet zwei Welten: Links das Panorama bei Tag, mit der strahlenden Sonne über einem Nebelstück. Beim Herausnehmen wurde der Film kurz belichtet, sodass neben der Sonne ein zweites Licht im Himmel erscheint. Auch dieses Bild entwickelt eine unglaubliche Dynamik, mit der etwas verzerrten einzelnen Tanne, die ihre Arme zu schwingen scheint, und dem Tannenpaar im Lichtertanz. Rechts schliesslich die nächtliche Atmosphäre, in der die Szenerie aus tiefem Dunkel auftaucht. Unten ist die geschwungene Linie der Bergkuppen zu sehen, während oben der Bogen der Dämmerung sich gegen das Schwarz behauptet – eine fast abstrakte, ruhige Komposition.
Karin Islers über Nacht entstandene Fotografien sind das Gegenteil der heutigen Smartphone-Selfies: keine Sekundenbilder, keine Selbstbespiegelung in optimaler Technik und Aufmachung, kein effekthascherisches Werben um Aufmerksamkeit. Dafür das geduldige Einfangen einer Stimmung, die Landschaft im spärlichen oder überbordenden Licht, minimale oder ausgeprägte Farbprismen, kaum spürbare oder kräftige, mitreissende Bewegungen.
Fragen des Lichts und Schattens bestimmen auch Karin Islers andere Arbeiten in Bedigliora, was ihnen trotz verschiedener Techniken und Farben eine Einheit verleiht. Das untere Atelier wird einmal selbst zur Lochkamera, als die Künstlerin die Fenster abdeckt und das Licht nur durch eine kleine Öffnung einfallen lässt. Es reflektiert gerade die Tanne vor dem Haus – gemäss dem optischen Lochkamera-Effekt erscheint das Bild auf dem Kopf. Diese umgekehrte Tanne malt die Künstlerin als Tondo. Die Umkehrung von Himmel und Erde verfremdet den Baum, als wäre er in eine Glaskugel gegossen.
In langsamer Arbeit entsteht ein Bild, in dem die Künstlerin das auf Fotos gebannte Morgenlicht in Malerei umsetzt. In vielen Schichten übermalt sie es immer wieder, bis die zarten Übergänge von rosa-orange zu blau schwerelos erscheinen. Es könnte ein kleiner Ausschnitt der Fotografie in Vergrösserung sein, oder auch, mit seinem Hochformat, ein Fenster zum Himmel. Schnell und spontan entsteht hingegen ein anderes Himmelbild, mit kühnen, energischen Pinselstrichen, eine befreiende Erfahrung für die Malerin.
Im oberen Stock antwortet ein düsteres Rundbild auf den farbigen Tondo, in einem Geschlängel dunkler Farbstränge. Karin Isler hört beim Malen Nachrichten. Malt sie ein Virus unter dem Mikroskop, oder den Zustand der Erde nach Kriegsausbruch? Mikrokosmos und Makrokosmos, das winzig Kleine und das Riesengrosse können im Bild zusammenfallen.
Was stellen wohl die Bleistiftzeichnungen auf den beiden schmalen Bändern im Querformat dar? Drei eckige Zacken scheinen das Bergmotiv aufzunehmen, darüber legt sich ein langer, schwarzer Balken mit Ausbuchtung. Der Titel «Ich» gibt einen Hinweis: Es handelt sich um die Künstlerin selbst, als Schatten auf dem Boden des oberen Ateliers. Tisch und Stuhl werfen Dreiecksschatten, lange Querstreifen rühren vom Stativ des Fotoapparats her. Das Selbstporträt der Künstlerin vereint also Motive des Lichts und des Schattens, der Malerei und der Fotografie, deren Spannungsfeld Karin Isler auslotet – beharrlich und konstant, mit Neugier und offenem Blick.
Ruth Gantert, Bedigliora, 26.03.2022