Daniela Rütimann

Daniela Rütimann (*1968) studierte nach dem gestalterischen Vorkurs Textildesign an der Schule für Gestaltung Basel. Sie absolvierte ein Austauschsemester an der Gerriet Rietveld Academie in Amsterdam. 1998 erfolgte ein Aufenthalt in London, mit Besuch des Central St. Martins College of Art and Design. Von 1999-2001 studierte sie Illustration an der Hochschule für Design und Kunst Luzern. Seit 2001 ist sie freischaffend und bewegt sich zwischen ihrer künstlerischen und der angewandten Arbeit als Zeichnerin/Illustratorin. Daniela Rütimann wohnt und arbeitet in Zürich.

Ausstellung Daniela Rütimann (Fotos Petra Schröder)

Aufenthalt

04.10. - 31.12.2024

Daniela Rütimann: Tutti quanti (14.12.2024)

Daniela Rütimann studierte Textildesign an der Schule für Gestaltung Basel und Illustration an der Hochschule für Design und Kunst Luzern. Seit 2001 ist sie freischaffend als Zeichnerin und Illustratorin. Sie wohnt und arbeitet in Zürich.

Als die Künstlerin in Bedigliora ankam, war sie begeistert von der Sicht auf die Berge, vom grossen, Loft-artigen Raum im zweiten Stock. Allerdings konnte sie bei so viel Platz um sich herum nicht schlafen, dafür brauchte sie ein kleines, gemütliches Nest. Dies schuf sie sich gleich selbst mittels der Papierrolle, die sie mitgebracht hatte: ein Bett mit Baldachin aus Papierstreifen, auf die sie Haare oder Stacheln malte. 

Wie der große Raum, so war auch die viele Zeit Glück und Herausforderung zugleich. Eine leere Agenda zu haben, den ganzen Tag bis in die Nacht frei einteilen zu können – großartig, aber auch schwindelerregend. Das Alleinsein hatte sie sich gewünscht und genoss es, manchmal war aber auch ein Besuch willkommen, ein Gegenüber für gemeinsames Essen und Reden. Auf ersten Zeichnungen zeigen sich tatsächlich Gestalten, die ein bisschen einsam und verloren auf dem Blatt stehen oder sitzen. Dafür bevölkern jetzt einige Tiere das Haus, huschen unter einem Treppentritt vorbei, tanzen an der Wand, sitzen in enger Umarmung im Bad.

Eine weitere Herausforderung für das Sich-Einnisten in Bedigliora war die Sprache – die Künstlerin hatte sich vorgenommen, Italienisch zu lernen. Unbekannte Wörter schwirrten um sie herum, und sie schrieb jeden Tag einige davon auf – das ergibt ein Tagebuch, in dem Gesprächsthemen und Gedanken ersichtlich sind. Nach den ersten Regenwochen war sie oft zu Fuss oder mit dem Elektrobike unterwegs und brachte mit, was sie draussen in der Natur faszinierte: Ein «Hausaltar» zeugt von den gefundenen Schätzen, Glyzinien-Samen und -Schoten, Tannzapfen. Was sie aber am meisten faszinierte, wurde zum täglichen Nahrungsmittel: die Kastanien, die sie im Wald sammelte und röstete. Stachelig aussen, liegen sie innen glatt aneinandergeschmiegt in der Hülle. Dieses gleichzeitig Aggressive und Verletzliche, Wehrhafte und Verwundbare wurde zu einem Thema ihres Aufenthalts in Bedigliora. 

So entstand der Reigen der Kastaniengeister: weibliche oder genderfluide Gestalten in expressiven Bewegungen, die zusammen angeordnet einen beschwingten Tanz, oder eine «parade sauvage» bilden. Ein bisschen erinnern sie an Sendaks «Wilde Kerle» – allerdings sind es «Kerlinnen», die nicht nur eine wilde, sondern auch eine zarte Seite haben. Die Stacheln der Kastanien finden sich in Haaren oder Pelzstrukturen wieder. Nacktheit und Verwundbarkeit kennzeichnet die Figuren, aber auch Stärke, Kraft, Präsenz. Paradoxerweise ist es vielleicht gerade die Sterblichkeit, die Fragilität, die sie so lebendig und gegenwärtig erscheinen lässt. 

Die Tuschezeichnungen unter der Parade zeigen ebenfalls Körper. Die Künstlerin mag das Schwarz der Tusche, mit der sie experimentierte, die starken Kontraste, die so entstehen. In der Serie werden die Blätter zu Teilen eines größeren Ganzen – wir lesen sie unwillkürlich als Geschichte, eine Art Daumenkino an der Wand. Verblüffend, wie wir Menschen eine Abfolge von Bildern wie auch von Wörtern sofort als Geschichte lesen. «circondato» steht auf einem Blatt – die Figuren sind umgeben von anderen Figuren, eingeschlossen, vielleicht umzingelt? Auch die Betrachter*innen können die Figuren als freundliche Gesellschaft oder als unheimliche Geister erfahren – vielleicht geht es um die Anwesenheit derer, die wir verloren haben, oder derer, die wir nicht gekannt haben, denen wir nicht bewusst begegnet sind und die dennoch auf uns einwirken? «Wer bin ich und wenn ja, wie viele»? hiess einmal ein Buch.

Die Bilder im unteren Stock verfolgen diese Fragen weiter. Aus einigen im Notizbuch skizzierten Formen wurden grosse Gestalten – da ist die riesige Bleistiftzeichnung eines eigenartigen, haarigen Wesens: ist es eines, sind es zwei? Ist es in Wirklichkeit winzig und sehen wir es tausendfach vergrössert? Ist es ein unschuldiges Kuscheltier oder eine erotische Fantasie, niedlich oder gruselig?

Unheimlich und faszinierend sind auch die Handy-Fotos der Nacht, in die Daniela Rütimann ein einzelnes Lebewesen oder auch eine ganze wilde Fiesta gesetzt hat – die Körper sind durchscheinend und transparent, ihre Präsenz flüchtig und doch nachhaltig.

Daniela Rütimann zeichnet oft für Aufträge. Da muss sie effizient sein, in nützlicher Frist Lösungen finden und deshalb auf Bekanntes zurückgreifen, von dem sie weiß, dass es funktioniert. In Bedigliora hingegen hat sie Neues ausprobiert, dem Zufall und der Intuition Raum gegeben.  

Die Gestalten, die dabei entstanden sind, lassen sich nun nicht mehr wegdenken, sie bevölkern diese Welt, sie sind Teil von ihr, von Daniela Rütimann und auch von uns – tutti quanti.

 

Ruth Gantert, Bedigliora, 14.12.2024