Elsbeth Gyger

Elsbeth Gyger wurde 1952 in Thun geboren. Sie lebt seit 2001 in Basel, wo sie in ihrem eigenen Atelier arbeitet. Nach Ausbildungen zur Schriftenmalerin, Bühnenbildnerin und Pädagogin besuchte sie die Schule für Gestaltung in Bern und eine freie Malschule (Beppe Assenza), sowie weiterbildende Kurse an den Schulen für Gestaltung Bern und Basel. Sie widmete sich auch dem Studium der japanischen Ästhetik, Sprache und Literatur (Eduard Klopfenstein). Heute übt sie neben ihrer Arbeit als Künstlerin Lehrtätigkeiten im In- und Ausland aus. Sie ist Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft Bildender Künstlerinnen SGBK.

Aufenthalt

04.10. - 31.12.2017

Elsbeth Gyger, «hier und jetzt»  

 

Elsbeth Gyger ist in Thun aufgewachsen. Sie bildete sich zur Schriftenmalerin, Bühnenbildnerin und Pädagogin aus und unterrichtete Handarbeit, dann Theater und bildnerisches Gestalten an der Steinerschule. Sie sei eine junge Künstlerin, sagt sie, und eine Autodidaktin. Studienaufenthalte verbrachte sie in Italien und Japan. Heute arbeitet sie in der Erwachsenenbildung im In- und Ausland und lebt mit ihrem Mann in Basel.

Nach Bedigliora kam sie in einer Zeit des Umbruchs. Den völlig anderen Ort und die frei zur Verfügung stehende Zeit erlebte sie wie eine Weltreise. Die sparsam eingerichteten Räume der Casa Atelier boten ihr sofort Platz für eigene Gedanken und Wahrnehmungen. Sie nutzte die Tage konzentriert zum Arbeiten, nahm sich aber auch Zeit für Wanderungen, für Begegnungen im Dorf und in der Umgebung, ja sogar für einen Keramikkurs bei Giusy Arndt.

Den Grundstein für ihre erste Arbeit bildete wirklich – ein Stein. Sie hob ihn auf dem Monte Mondini auf und wusste selbst nicht, warum. Zuhause legte sie ihn auf mitgebrachtes Japanpapier und fuhr den Konturen in lockerem Abstand mit dem Pinsel nach. Sie wendete ihn, legte ihn wieder und wieder hin. Fünf Papierbahnen setzt Elsbeth Gyger so zusammen, die etwas Tänzerisches bekommen. Die Schwere des Steines verwandelt sich in Leichtigkeit. Diese Leichtigkeit interessiert die Künstlerin, sie findet sie verschiedentlich in Bedigliora: Sieht der Monte Mondini vor dem Fenster nicht manchmal aus, als würde er abheben, und fühlt sich das Gehen auf den unebenen Pflastersteinen nicht an, als schwebe man über dem Boden?

Ein zweites Motiv tauchte auf, als Elsbeth Gyger zuerst meinte, Dorfjungen würfen nachts Kieselsteine an ihre Fenster. In Wirklichkeit waren es die explodierenden Glyzinien, aus denen die Samen brachen. Die Künstlerin sammelte sie ein und malte auch hier die Umrisse mit Japankreide oder mit Tusche. Die Farbe löste sie mit Wasser wieder auf und malte Schattenformen auf dem feinen und doch robusten Papier. Hart kontrastiert so mit weich, hell mit dunkel. Die Bilder enthalten bewusst keinen Fixpunkt, der Blick wird nicht geführt, er kann wandern. Eine solche «Unordnung» herzustellen ist gar nicht einfach, denn der Mensch ist von sich aus ein ordnendes Wesen. Um dem Ordnungsimpuls zu entgehen, warf Elsbeth Gyger die Samen auf das Blatt. Dieser Wurf gibt ihnen zum Zufälligen etwas Dynamisches, das auch auf den kleinen, rechteckigen Blättern stark wirkt: die Samen scheinen noch zu fliegen, als seien sie soeben geworfen worden.

Licht und Schatten spielen in einer weiteren Arbeit eine grosse Rolle. Sie geht von den Sonnenuhren aus, die ihre langen, flachen Schatten über unebene Steine werfen, und von einer Begegnung mit der Buchbinderei Kaltenbach in Novaggio. Dort liess sie sich Leporelli erstellen, auf denen sie einen einzigen Pinselstrich malte, in ausgeklügeltem Abstand zu den Rändern. Sie malte in einem Zug ohne abzusetzen oder innezuhalten, in grösster Konzentration. Der gerade Pinselstrich wird im gefalteten Leporello zur Zickzacklinie, man könnte an eine Lebenslinie denken, an einen aufgezeichneten Herzrhythmus. Dazu werfen sich Schatten auf das weisse Papier. Schattenzacken führen ihr Zwiegespräch mit der schwarzen Linie.

Nicht nur Licht und Schatten sind besonders schön im Herbst, stark sind auch die Farben. Eine davon packt Elsbeth Gyger ganz speziell: Die Farbe Orange. Orange leuchten die Sonnenuntergänge, die auf dem Markt an die wartenden Kundinnen verteilten ersten Mandarinen, die in den entlaubten Bäumen hängenden Kakis – wie von Kindern gemalte Kugeln. Die Künstlerin befasst sich mit dieser Farbe, malt sie mit Acryl auf Leinwand in ihrer ganzen Leuchtkraft. Die Wucht und die Schwere der Kaki-Kugeln ist auch Thema grosser Blätter, die wieder die Fülle der Fläche mit den Linien der Kontur kombinieren.

Kleinere Quadratblätter entstehen mit den Herbstfarben der Blätter, der Glyzinien, der Mandarinen und Kakis, der Kastanien. Für letztere stellte sie sogar die Farbe selbst her, mit ausgekochten Kastanienschalen und Gummi arabicum.

Die Streifen der Quadrate sind genau eingeteilt: Fünf Streifen ergeben ein Quadrat. Mit dieser Symmetrie beginnt die Künstlerin zu spielen, indem sie die Streifen halbiert, mit grösseren Leerflächen kombiniert, wie ein Musikstück mit jazzigen Synkopen in Schwingungen versetzt. Diese farbigen Quadratflächen erinnern an ein Memory-Spiel, in dem jedoch kein Kärtchen gleich wie das andere ist. Im Bordbuch, das die Künstlerin führt, ist dazu ein präziser Plan zu sehen. Elsbeth Gyger kombiniert genaue Voraussicht mit der intuitiven Arbeit aus dem Moment heraus.

Und so führt sie uns vor Augen, was sie mit den Worten von Goethe in ihr Bordbuch notiert:

Was ist das Schwerste von allem? Was dich das Leichteste dünkt! Mit den Augen zu sehen, was vor den Augen dir liegt.

 

Ruth Gantert, Bedigliora, 9.12.2017