Patricia Grzonka

Patricia Grzonka ist in Gossau (SG) aufgewachsen. Nach der Matura in St. Gallen studierte sie Kunstgeschichte, Kirchengeschichte und Ethnologie an der Universität Zürich. 1995 siedelte sie nach Wien über, wo 2002 ihr Sohn geboren wurde. Sie arbeitet als freischaffende Kunsthistorikerin und Kuratorin in Wien.  

Aufenthalt

03.07. - 30.09.2017

Architektur und Autonomie

Einführung

Patricia Grzonka ist in Gossau (SG) aufgewachsen. Nach der Matura in St. Gallen studierte sie Kunstgeschichte, Kirchengeschichte und Ethnologie an der Universität Zürich. 1995 siedelte sie nach Wien über, wo 2002 ihr Sohn geboren wurde. Sie arbeitet als freischaffende Kunsthistorikerin und Kuratorin in Wien. In Bedigliora schrieb sie an ihrer Dissertation, die dem Architekturhistoriker und Theoretiker Emil Kaufmann gewidmet ist. Auf der Einladungskarte ist eine schöne Ausgabe seines Standartwerks über die sogenannte Revolutionsarchitektur zu sehen. Kugelschreiber und Leuchtstift neben den Büchern weisen auf intensive Lese- und Schreibarbeit hin, handschriftliche Notizen finden sich ebenso wie diskrete Hinweise auf einen Computer (ein Kabel und ein USB-Stick). In einer Ecke ist auch ein Italienisch-Lehrbuch zu entdecken, mit dem schönen Titel „Italienisch für Büffelmuffel“. Neben ihrer Arbeit befasst sich Patricia Grzonka also auch mit ihrer Umgebung, erkundete auf dem Fahrrad die Landschaft und kühlte sich im Lago di Astano ab. Sie gibt uns im Folgenden einen kleinen Einblick in ihr Forschungsgebiet.

Ruth Gantert

Architektur und Autonomie: Der Architekturhistoriker und Theoretiker Emil Kaufmann

Warum Revolutionsarchitektur?

Unter Revolutionsarchitektur versteht man eine architektonische Strömung der Zeit um 1800: d.h. es ist eine Epochenbezeichnung am Übergang von der Neuzeit zur Moderne. Ihr Name allerdings steht in Zusammenhang mit der Französischen Revolution, denn ihr Ursprung liegt in Frankreich und betrifft Architekten, die zur Zeit der Revolution gelebt, aber nur zum Teil gebaut haben. Waren diese Architekten nun Revolutionäre? Nein, meint Emil Kaufmann: „Ein Irrtum wäre es, [dies sei nebenher festgehalten], zu meinen, dass die Architekten der neuen Richtung Revolutionäre im politischen Sinn gewesen seien. Einer der künstlerisch Radikalsten unter ihnen, Claude-Nicolas Ledoux, hat sich mit Nachdruck als Royalist bekannt.“ (1929, Archit. Entwürfe aus der Zeit der Franz. Revolution)

Claude-Nicolas Ledoux (1736-1806) ist einer von diesen Architekten, aber auch Étienne-Louis Boullée (1728-1799) oder der schon recht enigmatische Jean-Jacques Lequeu (1757-1826) – ein Künstler, der so bizarre Einfälle hatte, wie eine Molkerei in Form einer gigantischen Milchkuh zu entwerfen - Einfälle wie diese wurden dann auch als „Sprechende Architektur“ charakterisiert. Einige dieser Namen kennen Sie vielleicht. Von Boullée zum Beispiel stammt eine berühmte Zeichnung „Kenotaph für Newton“ (1784), die einen, rieseigen überwölbten Kugelbau von 150 Metern Höhe zeigt, der das Grabmal des ersten Physikers der Moderne, Isaac Newton darstellt. Alles an diesen Projekten war gross: ihre (utopischen) Ideen, die von den neuen aufklärerischen Idealen durchdrungen waren, ihre Motive, die Masse, die meist weit über der Norm angelegt waren, bis zu den Zeichnungen selbst, die oft mehr als einen Meter sowohl in der Länge als auch in der Breite massen. Der Vorwurf der Megalomanie schien gerechtfertigt.

Solche Projekte sind – Projekt – geblieben, und sie sind vor allem einmal in den Bibliotheken verschwunden, in diesem Fall in der Bibliothèque Nationale in Paris. Wie übrigens auch ein anderes bekanntes Tafelwerk, jenes von Ledoux: L’architecture considérée sous le rapport de l’ art, des mouers et de la legislation. Ledoux nun war, wie wir oben gehört haben, keineswegs Revolutionär, aber er hat so getan, besonders nachdem er 1793 für ein Jahr in Gefangenschaft kam, war er doch ein Vertreter des Ancien régime und hatte den Titel „Architecte du roi“. Im Tafelwerk von 1804, das eine Art „architektonische Erinnerungen“ – sein Lebensvermächtnis – darstellte und ganz klar eine Konstruktion war, hatte er seine Projekte dem neuen Zeitgeist der Französischen Revolution angepasst: Es findet sich da ein Tempel der Tugenden oder ein Tempel der Gemeinschaft oder ein Haus zum Ruhm der Frauen. Auch diese Bauten sind Projekte geblieben, darunter auch ein etwas kurios anmutendes kugelförmiges Flurwächterhaus z.B. oder das aus dem Stumpf einer Pyramide geformte Haus eines Holzfällers. Es sind diese Projekte, die Emil Kaufmann im frühen 20. Jahrhundert auf den praktisch vergessenen Architekten aufmerksam werden liessen. Nun hat aber Ledoux, um dies abzuschliessen, doch auch einiges gebaut: z. B. die Zollhäuser (Barrières) von Paris, von denen heute noch vier stehen, die meisten anderen sind während der Zeit der Revolution gestürmt worden – sie waren verhasst, weil sie die alte Macht repräsentierten. Andere realisierte Werke sind das Theater in Besançon oder die mittlerweile ins Unesco-Welterbe-Register aufgenommene ehemalige Salinenstadt in Arc-en-Senans ebenfalls in der Nähe von Besançon, unweit der Schweizer Grenze. Ledoux führte hier für einen Proto-Industriebau, der diese Salinen waren, einen völlig neuen, jedoch hybriden Stil ein, der eine „Klärung“ der baulichen Elemente beinhaltete, eine Vereinfachung der Baukörper in kubischen Klötzen, in geometrischen Primärformen; er verzichtete auf jegliche unnötigen Ornamente, verwendete aber grosse überbetonte Dachformen und rustikale Säulen – kurz: es war eine hybride architektonische Sprache, eine allerdings die bis heute interessant geblieben ist. (Die Stadt ist in einem Halbkreis angelegt, das Direktorium in der Mitte, Art Überwachung, die Salzgewinnungsanlagen in Längsbauten daneben und im Kreis darum herum die Arbeiterhäuser). Diese Anlage war bis 1895 in Betrieb.

Warum Emil Kaufmann?

Emil Kaufmann hat von dieser Anlage gewusst, als er zum erstenmal 1920 in seiner Dissertation über sie geschrieben hat, hatte sie aber nicht besucht, das geht aus seinen Anmerkungen hervor. Sein Verdikt war damals: dass die Salinenstadt wohl interessant sei, dass Ledoux darin aber seine eigenen Ansprüche nicht habe erfüllen können, seine Ideen, die „Ideale der Zeit“ auszudrücken, mit anderen Worten, er sei gescheitert. (Was wohl in Anbetracht seines Lebens und des revolutionsbedingt jähen Abbruchs der Aufträge auch gestimmt hat.) Nicht gescheitert hingegen ist er in den Augen des Architekturhistorikers Kaufmann mit seinen Entwürfen, die dieser zunächst als „anti-barocke“ Strömung innerhalb des Klassizismus bezeichnete und damit jenen Umschwung meinte, der letztlich zur Architektur des Neuen Bauens – zur Avantgarde des 20. Jahrhunderts mit Architekten wie Le Corbusier, Walter Gropius, Adolf Loos oder Gerrit Rietveld führte. Die Vereinzelung der Baukörper, die nicht mehr im „barocken Verband“ stehen, war es, was Kaufmann „autonome Architektur“ nannte – ein Begriff für den er berühmt geworden ist. Er taucht erstmals in einem Aufsatz von 1931 auf, aber wirklich Aufmerksamkeit erregt hat er in dem bahnbrechenden Büchlein von 1933 „Von Ledoux bis Le Corbusier. Ursprung und Entwicklung der modernen Architektur“, das in Wien im Passer-Verlag erschienen ist.

Und über dieses Büchlein bin auch ich auf den „Wiederentdecker“ der Revolutionsarchitekten aufmerksam geworden: Es war an einem Nachmittag in der Bibliothek des Architekturzentrums Wien, als ich in einem Aufsatz des Schweizer Architekturtheoretikers Adolf Max Vogt – ein Wissenschaftler, den ich später noch getroffen und interviewt habe – der selbst ein Buch Revolutionsarchitektur(en) verfasst hatte – den Satz las: ... wie schon der weltberühmte Wiener Kunsthistoriker Emil Kaufmann herausfand (oder so ähnlich). Jedenfalls hat mich da etwas in einen Aufmerksamkeitsmodus versetzt und ich habe mich drangesetzt zu recherchieren. Denn Emil Kaufmann war in Wien mitnichten „weltberühmt“ und in den damals bereits mehr als 15 Jahren, die ich in der österreichischen Hauptstadt gelebt und mich immer mit Kunst und Architektur befasste hatte, da ich ja als Kunst- und Architekturkritikerin tätig war, den Namen Kaufmann nie gehört. Aber nicht nur das, auch andere Architekturhistoriker und Theoretikerinnen, die ich später fragte, kannten ihn nicht. Vielleicht einzelne Architekten, wie Hermann Czech oder Wolf Prix, - oder sie behaupteten es zumindest. Die Publikation – eine Ausgabe von 1985 liegt da drüben – habe ich mir noch direkt an diesem Nachmittag in der AzW-Bibliothek geholt, ich musste sie extra beim Bibliothekar bestellen, denn sie befand sich  in einem sorgsam abgesperrten Glasschrank mit der Kennzeichnung „Rara“.

Emil Kaufmann ist 1891 in Wien geboren, er stammte aus einer assimilierten jüdischen Familie und studierte in Wien in der Zeit der Wiener Schule der Kunstgeschichte an der Universität Wien Kunstgeschichte. Nach Abschluss seines Doktorats, während dessen er sich bereits mit der Ästhetik des Klassizismus und Ledoux beschäftigt hatte, war er als freier Kunsthistoriker tätig – er publizierte und hielt Vorträge – hat aber nie auf der Universität unterrichtet. Für jüdische Wissenschaftler wurde es ab 1933, der Machtübernahme Hitlers in Deutschland – zunehmend schwierig, im akademischen Bereich tätig zu sein. Im quasi letzten Moment gelang ihm die Emigration durch eine Empfehlung des amerikanischen Kunsthistorikers Meyer Schapiro und er konnte über England in die USA reisen, wo er am 18. April 1940 ankam. In der Folge unterrichtete er an praktisch allen berühmten Architektur-Colleges von amerikanischen Universitäten (Princeton, Harvard, Chicago u.a.), wo er die Geschichte des europäischen Klassizismus unter besonderer Berücksichtigung der Revolutionsarchitektur – sehr viele andere Architekten wurden inzwischen dazugezählt, darunter auch deutsche wie Schinkel, Gentz, Gilly oder Speeth - lehrte. Kaufmann starb 1953, er hatte sein Hauptwerk über die Zeit der Aufklärung, Architecture in the Age of Reason: Baroque and Post-Baroque in England, Italy, and France gerade fertig geschrieben, den Erscheinungstermin erlebte er indessen nicht mehr. Kaufmann blieb vermutlich „Junggeselle“, er hinterliess keine Kinder, wir wissen so gut wie nichts über sein Leben.

Für mich liegt die Bedeutung dieser Geschichte auch darin, dass sie aufzeigt, unter welchen auch schwierigen persönlichen Umständen das Werk eines Wissenschaftlers gedeihen kann. Dass die Rezeption dieses Werks dabei in verschiedenen Ländern so unterschiedlich ausgefallen ist – Bekanntheit in den USA und in der Schweiz oder Frankreich, Ignoranz in Österreich – gehört für mich dabei in das Kapitel der kollektiven Verdrängung historischer Tatsachen wie derjenigen der Vertreibung von Wissenschaftlern aus rassistischen Gründen während des Nazi-Regimes im 20. Jahrhundert, die zum „Exodus“ einer ganzen Wissens-Generation aus Europa führte. Die Folgen davon sind – wie man sieht – noch heute spürbar, auch wenn schon so viel Zeit vergangen ist und auch wenn schon sehr viel an Aufarbeitung geschehen ist.

Patricia Grzonka, Bedigliora, 23. 9. 2017